rezső becht     sopron und die soproner [1]
redigierte Ausschnitte aus einem Vortrag am 17. März 1942, im Haus der Ungarischen Kultur in Budapest

Eine Stadt ergibt sich nicht aus der Masse der Häuser, nicht aus der Summe der Straßen, Plätze und Stockwerke, sondern aus einer spezifischen Qualität, aus der kompakteren Harmonie der Gesinnung seiner Bürger, durch die das Bündnis zwischen Häusern und Menschen mit Lichtstrahlen der Kultur geziert wird. Nicht jede Stadt, die aus der Gunst der Könige oder durch den Ehrgeiz der Bürger zu diesem Rang erhoben wurde, ist auch wahrhaftig eine Stadt. Es gibt große, fiebrig vibrierende Anhäufungen von Häusern, die vielleicht in tausend Jahren einmal zur Stadt reifen, und es gibt kleine Orte, mit stillem Pulsieren, die schon seit Jahrhunderten Städte sind.

Sopron/Ödenburg, diese bescheidene, stille Stadt — ist eine wirkliche Stadt. Eine unserer wahrhaftigen Städte, von denen es in Ungarn wenige an der Zahl gibt. Sie ist die westlichste Provinzstadt von Ungarn, nicht nur im geographischen Sinne, sondern auch in der kulturellen Interpretation des Begriffes.

Städte werden von Menschen gebaut. Wenn die Stadt eine Persönlichkeit bekommen hat, dann werden die Rollen plötzlich getauscht. Jetzt werden auf einmal die hier geborenen und aufgewachsenen Menschen von der Stadt geprägt. Jeder Bewohner trägt das Muttermal an sich, mit dem er von der Heimatstadt für das ganze Leben ausgestattet wurde. Menschen, die aus Kecskemét oder Klausenburg [2] kommen, sind verschieden; sogar einer aus Pest ist anders als einer aus Buda. Eine wirkliche Stadt färbt die Seelen der in ihr aufwachsenden Menschen jeweils anders, und erfüllt sie auch mit anderem Glanz und anderem Schatten.

Auch der Soproner ist anders, als seine Mitbürger im weiten Heimatland. Aber wie ist er? So, wie seine Stadt. Sopron ist eine Stadt an der Peripherie, eine Grenzstation, nicht nur auf der Landkarte, sondern auch, was die Landschaft, die Sprachen und die Gesinnung anbelangt. Außer gen Osten, findet der Tourist in jeder Richtung eine künstlich gezogene Grenze. Aber nicht nur die Grenzpfähle der Staatsgewalt symbolisieren hier einen Wechsel, auch die Landschaft schreitet hier vom Horizontalen zum Vertikalen, aus der flachen Ruhe der Kleinen Tiefebene zur sich aufbäumenden Welt der Alpen, deren zwei östlichsten Türme, die Rax und der Schneeberg, mit ihren schneebedeckten Kuppeln bis nach Ödenburg hinüberglänzen.

Sie lehren den Sopronern die Weitsicht über die begrenzte eigene Sphäre hinaus, und verlangen die permanente Erweiterung des geistigen Horizonts. Jene, die aus anderen Teilen des Landes hierher geraten, empfinden die Soproner als abweisend. Doch der Soproner ist lediglich besonnen, bedächtig. Deshalb öffnet er sich schwerer, deshalb ist er abgeneigt, zu früh Freundschaften zu schließen. Wer aber aufgenommen wurde, den möchte er zum Soproner formen. Diese Eingliederung verläuft häufig erfolgreich; da werden aus ehemaligen Fremden die unerbittlichsten Soproner, die Super-Lokalpatrioten.

Der engere Saum, der Ödenburg in eine Einheit fasst und umrahmt, ist ein Becken mit sanften Wogen, das von drei Seiten durch das Ödenburger Gebirge, die Hänge des Wienerbergs und die Silhouette des Kurutzen-Hügels abgeschlossen ist. In dieses Becken schmiegt sich die Innenstadt, wie eng aufgerollter Strudelteig ins Backblech. Von hier schwillt die Stadt dann auf die sanften Hügel der Umgebung über, wo sie in Obst- und Weingärten aufgeht, um dann die Herrschaft den Nadel-, Eichen- und Kastanienwäldern zu überlassen.

Die Ödenburger Landschaft ist wie ein zweiter Schulmeister für den Bewohner der Stadt. Von ihr lernt er Andacht und Geduld, Verständnis der Natur und Gleichgewicht des Herzens. Die Stadt ist vom Grünen der Bäume kreuz und quer durchwoben, sogar die Basteigärten der Häuser der Innenstadt bekommen davon etwas ab. Der Ödenburger fühlt sich nie und nirgends fremd von der Natur, weil hier die bewaldeten Hügel in jede Straße Einblick haben und unermüdliche Brisen ständig den duftenden Atem der Gärten und Wälder hereinströmen lassen. Dies macht Sopron zur gesundesten Stadt im Lande. Aber wie ist es um die Stadt selber bestellt, des Soproners Domizil und Schule?

Sie hat zweierlei Gesichter. Ein altes, ehrwürdiges, von Erinnerungen geprägtes Gesicht, aus dem Augen in die Vergangenheit zurückblicken, die schon vieles erlebt haben, und ein anderes Gesicht, welches in die Zukunft trachtet, jung und unverzagt ist. Wie bei einer sonderbaren Münze. Die eine Seite zeigt den Kopf von Adlern römischer Legionen, Mithras, den Sonnengott, Krieger der Petschenegen [3], gotischen Schmuck, barocke Engelein; die andere schmucklose Häuser von heute, geräumige Parks, moderne Fabriken, Reihen von Schulen, zehntausende Schüler und tausende Fremde mit Kameras in den Händen. Und diese Münze wurde vom grünen Samt der Soproner Landschaft geprägt.

Ödenburg wurde von einer Burg zur Stadt. In seinem Wappen wird das Stadttor von drei Basteitürmen behütet, hinter denen sich redliches Gewerbe, Handel und Wissenschaft geborgen zu fühlen vermochten. In den durch Burgmauer und Basteien vorgegebenen engen Kreis waren die Häuser mit hohen Dächern eingepfercht, wie die Herde in die Schafhürde, aus ihren Reihen ragten die Türme, Hüter des Glaubens und der Wachsamkeit empor. Engherzig bemessene, winzige Plätze unterbrachen die sich hin- und herwindende Zickzacklinie der engen Gassen. Außerhalb des Burggrabens, in der Außenstadt, verbreiteten sie sich dann bis zu den äußeren Stadtmauern.

Im Wesentlichen sieht die Innenstadt noch heute so aus. Große Feuersbrünste haben zwar einen Teil der mittelalterlichen Häuser eingeäschert, vom Barockzeitalter und Empire wurden diese Lücken aber mit schmucken Palais gefüllt, Toren mit schönen Bögen, Decken voller Fresken. Auch die innere Burgmauer ist noch vorhanden, nur ist sie durch die von außen angemauerten, mehrstöckigen, aber kaum ein paar Schritte breiten Häuser der Grabenrunde (Várkerület) verborgen.

Diese heutige Soproner Innenstadt ist wie der Teil der Burg zu Buda zwischen der Matthiaskirche und dem Wiener Tor. Gäbe es einen Riesen, der mit behutsamen Händen die Budaer Gassen in eine ovale Form zusammenbiegen würde, könnte sich der nach Buda geratene Soproner fast schon zu Hause fühlen. Natürlich würde er den Stadtturm vergeblich suchen, diesen in seiner muskulösen Substanz dennoch ätherisch feinen Recken der Türme, der aus dem Zeitalter der Árpáden [4] allmählich in die Renaissance, in den Barock und mit seinem Treue-Tor in unsere Zeit hineinwuchs. Auch die Suche nach der zarten Gotik der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Geißkirche wäre in Buda vergeblich, wie auch das Dreifaltigkeitsdenkmal vom Budaer Prunk-Platz der gedrehten Dreifaltigkeitssäule des Soproner Rathausplatzes mit seinen Engeln und den steinernen Wolken nicht ebenbürtig wäre.

Und dies, obwohl das alte Rathaus nicht mehr steht, das im Eifer der Vorbereitung des Millenniums [5] in einer unbesonnenen Stunde zum Abreißen verurteilt worden war. Seither schützt Sopron die Unantastbarkeit seiner Denkmäler mit zunehmendem Eifer, obwohl auch noch das alte, feine Empiretheater der Sezession geopfert wurde. Aber die altehrwürdigen Häuser in der Kloster-, Kirchen-, und St.-Georgengasse und auf dem Ursulinerplatz blieben vom Brechhammer seit Jahrhunderten verschont. Mit ein wenig Vorstellungskraft könnten in ihnen unsere Ahnen wieder zu neuem Leben erweckt werden. In herrschaftlichen Kutschen oder auf graziösen Tragbahren kämen die Bewohner alter Friedhöfe an, bestiegen mit vertrauten Schritten die Stufen des Zichy-Meskó-Palais oder der Bezerédi-Kurie, wo sich ihnen die mit prächtigen Eisengittern verzierten Türen weit auftäten. In den Zimmern mit Bogengewölbe genössen die alten Herrschaften dann vielerorts die Gastfreundschaft ihrer alten Möbel.

In diesen Straßen hat man in jeden Hof einzukehren. In dem einen steht ein römischer Grabstein, im anderen eine Barockstatue. Im Fabricius-Haus wird die Stiege zwei Stockwerke hoch von italienisch anmutenden Loggias bis zum Wallgarten hinaufbegleitet; im Haus des Grafen Eggenberg ist in der Mitte des Säulenganges immer noch jene steinerne Kanzel vorhanden, von der in der Zeit der Gegenreformation, den Soproner Lutheranern und den aus Wien zum Gottesdienst angereisten protestantischen Diplomaten das Wort Gottes verkündet worden war. Das Kmetty-Haus, das Sax-Haus, das Storno-Haus mit der reichen Privatsammlung, wo einst Matthias Corvinus weilte, und all die anderen Palais und Häuser reichen den Fremden von Hand zu Hand, wie die Verwandtschaft den gern gesehenen Gast.

Der Soproner Bürger ist zwar — wie die Eingeborenen im Allgemeinen — die Schönheiten seiner alltäglichen Umgebung kaum mehr bewusst, steht aber dennoch unter ihrer Wirkung. Seine Augen gewöhnen sich an die edel proportionierten Formen, sein Geschmack lernt es, Unechtes von Wahrem, beständige Werte von Wertlosem zu unterscheiden.

In diesem Panorama gebührt dem Stadtteil jenseits des Spittalbaches (Ikva) eine besondere Achtung; dem Wiener Viertel und dessen meist deutschstämmige Einwohnern, die „Wirtschaftsbürger“. Sie beschäftigten sich mit Landwirtschaft, hauptsächlich mit Weinbau; von den ungarischen Bewohnern wurden sie etwas überheblich „poncihter“ (Bohnenzüchter) genannt.

Jenseits der Spittalbach-Brücke, dort, wo als Überbleibsel aus dem 13. Jahrhundert, die Heiliggeistkirche mit ihrem stumpfen Turm kauert, nehmen launisch gewindete Gassen und Durchgänge mit merkwürdigen Namen Anlauf zum Hügel. Städtische Häuser mit Stockwerken gehen hier über in schief und krumm zusammengemauerte, aber mit gemeißelten Steinpfeilern versehene Häuser der Wirtschaftsbürger, wo sich die ungarische Rede mit deutscher Mundart mischt. Diese Gegend zieht Kunstmaler und Fotoamateure an – und auch Weinliebhaber, da auf den Häusergiebeln, neben den Madonnen und den Pietáfiguren Fichtensträuße der Buschenschanken im Wind flattern. Hier wird von den Wirtschaftsbürgern aufgrund eines alten Privilegs, in festgelegter Reihenfolge der selbst angebaute Rotwein aus der Gegend des Neusiedler Sees ausgeschenkt, im Wohnzimmer, oder an Sommerabenden hinten, im langen Hof, an Ziegenfußtischen neben Eggen und Pflügen. Vom roten Wein werden auch die Ohren rot, die Herzen warm, die Heftigkeit beim Politisieren lässt nach, stattdessen keimt das Liedersingen auf, ungarische Trinklieder und deutsche Lieder wechseln einander ab, tönen auch manchmal gleichzeitig, der Takt dazu wird durch Hammerschläge der nahen Schmiede Iker geliefert. Und oben, auf dem Hügelrücken wacht bereits seit sechs Jahrhunderten die gotische Ruhe der St.-Michaeli-Kirche über die weinliebenden Lebendigen und über die Toten des ihm anvertrauten Alten Friedhofs.

Dieses Viertel der Wirtschaftsbürger verbindet die Stadt mit der Nahrung spendenden Natur. Die Ochsenkarren und Weinlesewagen, die auf Fahrrädern vorbeiflitzenden Milchweiber und beschürzte Burschen halten die enge Verbundenheit mit den Erdäpfelfeldern und Weingärten aufrecht, so dass am Wochenmarkt auf der Grabenrunde nicht Fremdes an Grünzeug, Erbsen oder Paradeisern gekauft, sondern die Ernte der bis zum Neusiedler See hinunterragenden sonnigen Äcker angeboten wird.

Gegenüber, oberhalb vom Wandorfer (Bánfalva) Karmelitenkloster, ist der bläuliche Rücken des Burgstalls (Várhely) zu sehen. Dort lebte noch in vorgeschichtlichen Zeiten, hinter einer weiten Wallanlage, ein Volk, dessen Andenken durch die berühmten Burgstaller Funde bewahrt wird. Weiter östlich, zwischen Faberwiese und Karlshöhe wurden die erste figural verzierte Urne sowie eine Menge von Tonidolen gefunden.

Der Vorläufer unserer Stadt, Scarbantia wurde von den Kelten nicht unten im Tal, sondern auf den Hängen des Wiener Hügels erbaut; damals mag die Stelle der heutigen Innenstadt noch eine sumpfige Wildnis gewesen sein. Die Pannonien erobernden römischen Legionen haben aber die riesigen kapitolischen Skulpturen von Jupiter, Juno und Minerva bereits an der Stelle des heutigen Rathausplatzes aufgestellt. Diese träumen jetzt zusammen mit den Steinäxten, den verzierten Urnen und keltischen Funden im reich bestückten Soproner Museum ihren Traum von der einstigen Grenzprovinz. Hier führte die Kriegsstraße nach Vindobona, ins heutige Wien. Dort, in der Nähe des St.-Michaeli-Tores kamen die Karawanen auf dem „Bernsteinweg“ vom Baltischen Meer an, geladen mit Bernstein, aus dem dann in Sabaria dezente und weniger dezente Figuren geschnitzt wurden.

Mit dem Ende der römischen Herrschaft fallen düstere Schatten auf die Stadt. Sie wird fast ausgelöscht. Die keltisch-römische Stadt wird Teil des Awarischen Reiches. Ein dunkles Zeitalter. Die Stille der Verwesung schwebt über der „oeden Burg“. Aber die Geschichte kommt erneut ins Wallen, als die Hufen von Steppenpferden neue Eroberer nach Europa bringen. Die ungarischen Stämme geleitet von Vérbulcsú und Lél besetzen den westlichen Gyepű [6]. Es entsteht das Ungarische Reich, zu dessen westlichster Grenzburg, seit dem heiligen Ladislaus I. von Ungarn, Sopron erhoben wird. 1277 wird es von Ladislaus IV. von Ungarn zum Range einer königlichen Freistadt erhoben, als Ausdruck der Dankbarkeit für die Treue während der Kriege mit Böhmen.

644 Jahre später, im Jahre 1921 wird Sopron von der Geschichte wieder auf die Treueprobe gestellt [7]. Die Stadt bekennt sich erneut zu Ungarn und trägt seither die Inschrift „die treueste Stadt“ („Civitas Fidelissima“) in ihrem Wappen.

Was zwischen diesen beiden Jahreszahlen alles geschah, ist eher eine Geschichte der mühseligen Arbeit als die der heroischen Kämpfe. Sopron fiel nicht in den Hauptstrom der großen geschichtlichen Ereignisse. Von Tataren, Türken und Aufständischen verschont, musste sie aber die „bürgerlicheren“ Schicksalsplagen der Feuersbrünste und der Pestepidemien ertragen. Durch die Stürme der Reformation und der Gegenreformation ist der Glaubensfrieden zwar erheblich aus den Fugen geraten, aber auch dieses pendelte sich wieder ein, und der Soproner Bürger ging seines Weges weiter, als Hüter der Kultur und der wirtschaftlichen Entwicklung. Unter Kaiserin Maria Theresia, die als Gast Fürst Esterházys auch unter ihren Mauern weilte, wurde der Höhepunkt einer wirtschaftlichen Blütezeit erreicht, die Stadt wurde zum Zentrum des Getreide-, Wein- und Rinderhandels im Westen Ungarns.

Der daraus erwachsende Wohlstand steigerte den Kulturdurst. Man sammelte Antiquitäten, edle Möbel, Meisterstücke der Goldschmiedekunst und gute Bücher, pflegte selber Hausmusik und war bewandert, wenn es darum ging, im großen Saal des Casinos klassische Musik und im Theater Opernaufführungen genießen zu können. Und weit weg vom profanen Lärm der Welt, man genoss die Sommertage auf der Veranda in den „Löwern“ [8].

Die Blütezeit des soliden, bürgerlichen Wohlstands, der Großhändler-Millionäre, der reichen Handwerker-Dynastien dauerte bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, obwohl der wirtschaftliche Niedergang schon früher begann. Durch den Friedensvertrag von Trianon hat die Stadt ihr wirtschaftliches Hinterland verloren, aber die Lage formte aus den konservativen Sopronern kühne Unternehmer. Es entstanden neue Industrieanlagen, Stadtteile schossen blitzschnell aus dem Boden. Die Anziehung der Ödenburger Landschaft begann ihre Erträge zu bringen, auch die Stadt selber investierte in den Fremdenverkehr und baute das Hotel Lővér und somit den Kern des Magneten für den von Jahr zu Jahr wachsenden Tourismus.

Handel, Wirtschaft und Fremdenverkehr — das sind die drei Hauptpfeiler des Soproner Lebens. Der vierte Pfeiler ist die Kultur. Das Museum und das berühmte Soproner Stadtarchiv zeugen davon, dass sie seit Jahrhunderten gefördert wurde. Einige Zeugnisse materieller Kultur sind zum Beispiel das aus 1379 stammende, erste Grundbuch, das erste Steinpflaster aus dem 16. Jahrhundert, die seit 1656 funktionierende Handelsgesellschaft. Ödenburg ist auch in der neueren Zeit immer vorne dabei, wenn es um die Einführung neuer Errungenschaften geht. Der Soproner Bürger reist bereits 1846 per Eisenbahn nach Wiener Neustadt, beleuchtet die Stadt bereits 1866 mit Gaslampen, trinkt seit 1890 Leitungswasser, liest seit 1850 seine eigene Zeitung, hat seit Ende der 1890-er Jahre elektrisches Licht, und im Jahre 1900 klingelte bereits die Straßenbahn auf der Grabenrunde.

Wissenschaft und Kunst sind durch tiefe Wurzeln mit dem Ödenburger Boden verbunden, in seinen fünfzig Schulen lernen etwa 10.000 Schüler. Von seinen alten, anerkannten Schulen wird im Evangelischen Lyzeum seit 1557 Wissen verbreitet und Heimatliebe gepflegt. Unter seinen großen Schülern finden wir den Dichter Dániel Berzsenyi und den evangelisch-lutherischen Bischof János Kis, den Gründer der „Ungarischen Gesellschaft“. Die zweit älteste Lehranstalt ist das im Jahre 1636 eröffnete Katholische Gymnasium, in dem Jenő Rákosi zum Schulvater des ungarischen Journalismus erzogen wurde. Von den zwei Universitätsfakultäten ist die Evangelisch-Lutherische Theologische Fakultät als Erbin der alten Evangelischen Theologie zu betrachten; die Fakultät für Forst-, Bergbau- und Hüttenwesen der Kg. Palatin-Josef-Universität für Technologie und Wirtschaftswissenschaften ist Nachfolgerin der Bergakademie Schemnitz (Selmecbánya) [9] die nach dem Krieg in Sopron Zuflucht gefunden hat.

Durch die wissenschaftlichen Arbeiten der gelehrten Professoren beider Fakultäten wurde Ödenburg beinahe weltbekannt, denn unter den Studenten befinden sich allerhand Nationalitäten, sogar Chinesen. Die Universitätsjugend in „Gruben“-Anzügen [10] und Theologen mit der Bocskay-Mütze bringen allesamt einen frischen Flair in die alte Stadt. Sie sind die beste Propaganda für Ödenburg; immer wiederkehrende Freunde, was auch zum Teil dadurch bedingt ist, dass viele der in allen Teilen des Landes verstreute Ingenieure und Pastoren durch Heirat verwandtschaftliche Bande zu Sopron haben.

Die Stadt der Schulen ist auch Stadt der Vereine mit großer Vergangenheit. Der Seele des Soproners sind Kaffeehäuser, die „Kaffeehauskultur“ fremd. Sein Bedürfnis nach Kultur wird eher in den Vereinen befriedigt. In einer Stadt, wo in jeder Straße Gedenktafeln an den hiesigen Aufenthalt von Dichtern, Künstlern und Wissenschaftlern, von Sándor Petőfi oder von Franz Liszt erinnern, wo von Christoph Lackner, dem Dichter-Goldschmied-Juristen-Soldaten-Bürgermeister schon 1604 eine literarische und wissenschaftliche Gesellschaft gegründet wurde, und wo es schon seit dem Jahre 1769 ein Theatergebäude gibt, dort braucht man sich nicht zu wundern, dass ein Musikverein bereits seit 1830 besteht, und dass der Literaturkreis Frankenburg seit 1877, der Männergesangsverein seit 1875, und der Verein zur Stadtverschönerung seit 1869 aktiv ist.

Bei diesem Wandel kommt den Löwern, den Ödenburger Erholungsgärten, eine große Rolle zu. Wird das Wetter schöner, verlegt ein Teil der Bewohner seinen Sitz in die Löwern. Aber was sind denn diese Löwern? Die Löwern liegen auf halbem Weg zwischen den dörfischen Obstgärten und den noblen Herrengärten. Um einen Löwer zu haben, braucht man Hügel, nicht allzu hohe, aber doch so hoch, dass man sich auf dem Wege nach oben anstrengen muss; und dass man weite Aussicht hat, am besten, bis zum blauen Streifen des Neusiedler Sees. Außer gewöhnlichem Obst müssen auch Edelkastanienbäume vorhanden sein, und im Schatten der Bäume auch wilde Alpenveilchen. Wenn man noch zwei Reihen Ribiseln (Johannisbeeren) sowie Buchsreihen anlegt, viele Blumen, hohes Gras mit Wildblumen, und Käfersummen, Vogelgezwitscher, Fichten-Leibwächter um das Haus herum dazu nimmt, dann hat man bereits jenes nach Obst duftende bürgerliche Paradies beisammen, welches Löwer genannt wird.

Und hinter ihnen beginnt die Weite der Nadel-, Eichen- und Buchenwälder, mit gepflegten Spazierwegen. Von diesen Wegen gibt es Abzweigungen auf stille Waldpfade, die voll von Überraschungen sind. Der Soproner Wald gehört allen. Wer sich einige Wochen in den Soproner Wälder vergessen hat, wer seine Skier im Winter vor dem István-Haus hinstecken konnte, oder im Herbst einen Schluck goldenen Weines auf der Terrasse des Hubertus-Restaurants genießen konnte, der wird verstehen, dass der weltgewandte Soproner — der ewige Soproner — sich aus der weiten Welt hierher zurücksehnt

 

[1]       in der deutschen Übersetzung wird der ungarische und der deutsche Name der Stadt (Sopron bzw. Ödenburg)
gleichwertig verwendet
[2]       ungarisch: Kolozsvár, z.Z. des Vortrages in Ungarn, heute in Rumänien (Cluj-Napoca)
[3]       ein Turkvolk, im 10. Jahrhundert als Grenzwächter an den nordwestlichen Grenze Ungarns angesiedelt.
An sie erinnert z.B. der Ortsname Pöttsching im Burgenland
[4]       erstes Herrscherhaus des Königreichs Ungarn
[5]       das tauendjährige Bestehen des Königreichs Ungarn wurde 1896 landesweit gefeiert.
[6]       unbewohnt belassener Grenzschutz-Saum in mittelalterlichem Ungarn
[7]       bei dem Friedensvertrag von Trianon wurde Sopron als Hauptstadt der an Österreich abgetretenen Gebiete
(das heutige Burgenland) vorgesehen. Freischärler verhinderten die Übernahme, und es kam zu einer
Volksabstimmung, dessen knappes Ergebniss bis in die jüngste Vergangenheit bestritten wurde
[8]       Gartenvietel an den südlich der Stadt liegenden Hügeln
[9]       heute: Banská Štiavnica in der Slowakei
[10]    Formanzug ursprünglich der Studierenden des Bergbaus, auch von Forst-Studenten getragen

 

Rezső Bechts Essay über Sopron und seine Bürger entstand Anfang der 40er Jahre als noch nichts den Frieden in der Stadt bedrohte. Das kulturelle Flair, welches auch József Horváth angezogen und schließlich zum Soproner gemacht hatte, war noch voll intakt. Der Krieg kam aber bald auch nach Ödenburg und brachte 1944 die schweren Bombardements, die das Antlitz der Stadt nachhaltig veränderten. Einiges des hier Beschriebenen ist leider nicht mehr vorhanden.

Viel bedeutender aber war der Verlust der Bürger der friedlichen Stadt. 1800 jüdische Bewohner wurden verschleppt. Nach Kriegsende wurden weitere 7000 Einwohner, die sich zu ihrer deutschen Muttersprache bekannt haben, zwangsweise ausgesiedelt. Die kommunistische Verwaltung betrachtete den kulturellen Sonderstatus von Sopron argwöhnisch und versuchte jedwede noch vorhandenen Reste bürgerlicher Lebensweise zu vernichten. In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens kam es zur Eiszeit.

Die politischen Veränderungen in Ungarn im Sommer 1989 sorgten dafür, dass die Stadt Sopron schlagartig als Ort der Menschlichkeit ins Bewusstsein der Europäer trat. Das Paneuropäische Picknick, zu dessen Anlass – trotz noch bestehenden Schießbefehls – das Grenztor an der alten Bundesstraße nach Preßburg geöffnet wurde, bot am 19. August DDR-Bürgern erstmals die Möglichkeit zur freien Ausreise. Nach Jahrzehnten eines geteilten Europas sollte Sopron zu dem Ort werden, an dem „der erste Stein aus der Mauer gebrochen wurde“, wie der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl formulierte.

Auch das sollte Teil der Geschichte der Stadt werden, auch das gehört zu Sopron